Gast beim politischen Podcast Reiner Wein ist die Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin Dr. Judith Kohlenberger. Zu Beginn des Gesprächs mit Michael Winkler, erstmals Gastgeber bei Reiner Wein, beschreibt sie ihren Forschungsschwerpunkt Fluchtmigration. Auf den ersten Blick würde man ihn kaum der Wirtschaftsuniversität zuordnen, an der Judith Kohlenberger tätig ist.
2015 war auch für Kohlenberger ein prägendes Jahr, da sie sich seitdem intensiv mit der Fluchtmigration beschäftigt: Damals begann eine Gruppe bestehend aus Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen, demografische Daten zur Flüchtlingswelle zu erheben – etwas, das bis dato nie umfassend gemacht wurde. Tausende Face-to-Face-Befragungen in der jeweiligen Landesprache wurden durchgeführt, bei denen der sozioökonomische Hintergrund der Geflüchteten erhoben wurde. Von da an war der akademische Weg von Kohlenberger, die aus einer Grenzregion im Burgenland kommt, vorgezeichnet.
Narrative und politisches Kalkül
Szenen wie damals, als Tausende Menschen unkontrolliert und chaotisch über die Grenze gekommen sind, hätten sich verhindern lassen, da sich eine Fluchtbewegung schon längst angekündigt hatte.
Die monetären Kürzungen des World Food Programme als Hauptauslöser waren jedem Regierungschef bekannt. Die Logistik hätte wesentlich besser organisiert werden können. Resettlement Programme, wie sie beispielsweise Kanada anwendet, hätte man auch rechtzeitig in Europa implementieren können.
Bereits während der Ungarnkrise 1956 gab es sowohl Hilfsbereitschaft, also auch Angst – und auch damals wurden ähnliche Narrative (zum Beispiel kulturelle Unterschiede usw.) wie 2015 gepflegt, die zur Spaltung der Bevölkerung beitrugen. Da manche Nationalregierungen in Europa nicht an der Lösung der Migrationsfrage interessiert seien, so Kohlenberger, da sie davon politisch profitieren würde, gebe es auf EU-Ebene auch keine Lösung.
Das Asylparadox
Die Vorschläge, die Rechts der Mitte seit 2015 präsentiert werden – Abschottung, Abschreckung und Auslagerung auf Drittstaaten –, haben keinen Erfolg gebracht, insbesondere weil sie kaum umsetzbar sind. Die gezielte Vermengung von Migration mit illegalem Grenzübertritt (also Kriminalität) negiert den Fakt, dass es keine Möglichkeit gibt, auf legalem Weg um Asyl anzusuchen (Asylparadox).
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Herzlichen Dank, Ihr Gunther Sosna
Die Angst vor Migration habe sich mittlerweile in der gesamten Gesellschaft ausgebreitet. Die Rhetorik mancher Politiker würde diese angebliche Bedrohung zwar am Köcheln halten, was zur negativen Konnotation bestimmter Begriffe wie zum Beispiel „Migrant“ beiträgt, es würden aber nie wirkliche Lösungsvorschläge geliefert.
In der Coronakrise sei die europäische Bevölkerung geschrumpft, zum einen aufgrund des Virus und wegen ausbleibender Migration. Dies sei dahingehend sehr bedenklich, da viele Migranten in systemerhaltenden Berufen (Erntehelfer, Lieferdienste, Pflege) tätig gewesen sind und dort nun Arbeitskräfte fehlen.
Der Blick auf die Ränder Europas
Das EU-Türkei-Abkommen wird in der Wissenschaft ambivalent beurteilt: 2016 war es eine aus der Not geborene funktionale Lösung, die zum Rückgang der Migration geführt hat. Aber viele der damals implementierten Teilaspekte des Abkommens wurden nie voll inhaltlich umgesetzt. So zum Beispiel wurden jene syrischen Flüchtlinge, die in Griechenland einen legalen Aufenthaltstitel erworben haben, bis heute nicht auf die EU-Mitgliedsstaaten aufgeteilt.
Die katastrophale Situation in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln, zivilgesellschaftliche Bewegungen, die sich für Flüchtlinge einsetzen, die Wichtigkeit der EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention), die Hysterisierung von Krisen und die politische Instrumentalisierung von Flüchtlingen (siehe Weißrussland) sind weitere Themen dieses Gesprächs.
Über unseren Gast
Dr. Judith Kohlenberg (Jahrgang 1986) studierte an der Universität Wien Anglistik und Amerikanistik und verfasste ihre kulturwissenschaftliche Dissertation unter dem Titel „The formula for cool“.
Als Kulturwissenschaftlerin ist sie an der Wirtschaftsuniversität Wien tätig. Ihr Schwerpunkt liegt auf Identitäts- und Repräsentationspolitik, ihre Forschungsarbeit befasst sich vor allem mit Fluchtmigration und Integration, Flucht und Bildung, der Demografie von Displaced Persons sowie Krisennarrativen.
Judith Kohlenberger engagiert sich in der Initiative „Courage – Mut zur Menschlichkeit“, gehört zum Expertenrat „Migration.Integration.Teilhabe“ des Österreichischen Integrationskongresses und ist im Vorstand der Vereine „migrant“ und „frida Asyl- und Fremdenrechtsberatung“.
Fotos und Video: Reiner Wein und Idealism Previals
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