Die neue Folge von Reiner Wein, dem politischen Podcast aus Wien, beschäftigt sich mit der Frage, ob die Epoche der Digitalisierung zu Nachteilen bei Bildung und Wissen führt. Das Schlagwort Digitalisierung, das für sich genommen viel weniger aussagt als hineininterpretiert wird, geistert seit etwa zehn Jahren durch die Medien und die Politik, sagt Prof. Dr. Jesper Larsson Träff. Der Informatiker ist Gast bei Reiner Wein.
Bildung, Wissen und die Industrie 4.0
Vor allem bei Prognosen über die Zukunft von Wirtschaft und Arbeit findet der Begriff Digitalisierung Verwendung. Die damit gemeinte Entwicklung wird dadurch quasi als alternativlos dargestellt. Eine gesellschaftliche Diskussion darüber hat es aber nie gegeben.
Träff, der an der Technischen Universität Wien lehrt, vermisst den Konsens. Dass es sinnvoll ist, wenn zum Beispiel Behörden ihre Kommunikations- und Organisationsstrukturen modernisieren, darüber wäre wohl schnell Einigkeit herzustellen. Bei der Industrie 4.0 und den sich damit verändernden Arbeits- und Beteiligungsprozessen sieht dies aber anders aus. Auch deshalb, weil Optimierungs- und Automatisierungsprozesse zum Abbau von Arbeitsplätzen führen. Ob dafür ausreichend neue entstehen und in welchem Zeitfenster, ist dagegen unklar.
Die Digitalisierung der Gesellschaft und der Bildung sind weitere offene Prozesse; vor allem Letztere ist ein Schwerpunkt von Träffs Arbeit. Er meint, dass das positive Framing der Digitalisierung viel zu wenig hinterfragt würde; die unterschiedlichen Aspekte müssten für sich diskutiert und auf ihre Sinnhaftigkeit überprüft werden.
Im Zuge der Coronakrise wurde die Digitalisierung in vielen Bereichen vorangetrieben (Ansätze gab es schon lange davor); die Möglichkeit von Distance Learning und andere Veränderungen im Bildungswesen werden durchweg positiv konnotiert. Dass dadurch beispielsweise das Miteinander des universitären Lebens verloren geht, wird kaum thematisiert; weder Studenten noch Lehrpersonal wurden zu dieser radikalen Veränderung bisher befragt.
Triumph der Oberflächlichkeit
Aktuell befindet sich das Bildungswesen in einem großen Laboratorium, dessen Versuchsergebnis offen ist, sagt Träff. Es gebe aber Universitäten vor allem in den USA, die sich dazu entschlossen hätten, diesen Weg nicht mitzugehen.
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Herzlichen Dank, Ihr Gunther Sosna
Der emotionale Erlebnisraum, in dem man sich Wissen aneignet, ist ebenso wichtig wie das Wissen selbst; diesen kann man nicht im digitalen Raum simulieren, sagt Träff. Gemeinsames Forschen, Diskutieren und Lernen sei nur in physischer Präsenz effektiv möglich. Ohne diesen Austausch könne man zwar Experten für Spezialgebiete heranzüchten, aber keine kritischen Geister, auch wenn dieser Menschentypus wohl nicht mehr gewollt sei.
Es käme erschwerend hinzu, dass die Universitäten durch die Verschulung seit den 1990er-Jahren die geistige Bewegungsfreiheit für Studenten bereits stark eingeschränkt hatten. Mit dem Ergebnis, dass es heute zwar viel mehr wissenschaftliche Publizierungen gibt, diese aber im Durchschnitt wesentlich oberflächlicher sind als noch vor 20 Jahren. Grund ist eine Abnahme der “technischen” Fähigkeiten der Experten aufgrund der geschilderten Veränderungen.
Der Homo Digitalis im Dschungel
In der Vergangenheit wurde das Wissen vom Meister an den Lehrling, vom Professor an den Studenten weitergegeben. In einer digitalen Welt, wo das Lernen großteils alleine im eigenen Heim abläuft, ist dieser Wissenstransfer kaum mehr gegeben und die Gefahr wesentlich größer, dass sich jemand inhaltlich “verläuft”.
Die effektiven Speicher- und Suchvorgänge, die die IT über Algorithmen hervorgebracht hat, helfen uns, den unüberschaubaren Dschungel an Informationen zu durchblicken; zeitgleich verursacht die IT aber auch das rasante Wachstum dieses Dschungels (weltweit gibt es mittlerweile eine Billion Webseiten), der prozentual immer weniger klassisches Wissen enthält.
Wie der Wissenschaftler vorgeht, um Wissen aus diesem Meer an Information herauszufiltern, wie in Wissenschaft und Bildung mit Fehlern umgegangen wird, welche Auswirkungen E-Learning und “Lifelong learning” auf den Menschen (Glaube statt Wissen) und die Gesellschaften haben und wie die Auswahl von Inhalten durch Algorithmen sich auf die Wissenschaft auswirkt, sind weitere Themen des Gesprächs beim politischen Podcast Reiner Wein.
Über unseren Gast
Jesper Larsson Träff (Jahrgang 1961) wurde in Kopenhagen geboren und ist Professor für Informatik an der Technischen Universität Wien. Sein Forschungsschwerpunkt ist das parallele Rechnen. Die Technische Universität ist Österreichs größte naturwissenschaftlich-technische Forschungs- und Bildungseinrichtung. Sie bildet mit der TU Graz und der MU Leoben den Verbund Austrian Universities of Technology mit mehr als 42.000 Studenten und 8.800 Mitarbeitern. Mehr Informationen finden sich auf der Webseite der Technischen Universität.
Fotos und Video: Idealism Previals und Reiner Wein
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